Psychologie eines Reichsdeppen
Ich denke, dass das Medium Internet bei dem Phänomen eine ganz wesentliche Rolle spielt. Denn Leicht- und Irrgläubige, Minderbemittelte, gediegene Querulanten und auch richtig Abgedrehte und Psychopathen hat es natürlich immer gegeben. Ausprägung und Gestalt der Störungen sind aber immer von der Umgebung, also der mehr oder weniger wahrgenommenen Umwelt abhängig.
Früher hielt man sich gern für Napoleon oder Cäsar. In Bayern sind heute noch Engel, Teufel und Dämonen ein häufiges Thema in der Psychatrie. Berlin ist moderner und deswegen wird man da eher von Geheimagenten, Überwachungskameras und Aliens verfolgt. Jedes Land und jede Kultur hat seine spezifischen aber immer passenden Sub- und Unkulturen.
Das heutzutage allgegenwärtige Internet aber, das von fast jedem benutzt werden kann, bewirkt eine oft gewaltige, wenngleich von außen nicht leicht wahrzunehmende, Veränderung der Umwelt:
- die verstreute, meist kontaktarme Klientel entdeckt im Netz ihnen artverwandte Seelen
- sie finden sehr einfache und überzeugende aber falsche Antworten auf ihre Fragen
- sie entdecken die Möglichkeiten sich mit viel weniger Scheu mitteilen zu können
- vorhandene abwegige oder wahnhafte Ideen finden Erklärung und Bestätigung
- sie finden sich zu Gruppen der gegenseitigen Selbstbestätigung zusammen
Und die Macht des Mediums formt das Bewusstsein nach den Regeln, die das Medium im Zusammenspiel mit der menschlichen Psyche und der gefühlt veränderten Umwelt schafft.
Die Leichtgläubigen haben immer schon viel geglaubt und ihre Ideen gern beliebig miteinander vermengt. Aber erst das Internet hat die Basis für eine Sintflut von wechselseitig verquirlten Theorien und Wahngebilden ermöglicht, die ausufernder sein können als ein Mensch es zu erfassen vermag. Dies scheint nicht nur wie ein irrationales Spiegelbild der im Netz zu findenden Mengen an strukturierter richtiger Information, sondern ist eines. Es gibt schon einige Wikipedias des Wahn- und Irrsinns und sie werden sicher weiter wachsen.
Wodurch die Menge und Verfügbarkeit sowie die Geschwindigkeit der Verbreitung von nahezu jedem Blödsinn konstant wächst und eine erhebliche Steigerung der daraus adaptierten Vorstellungen bei dem dafür empfänglichen Publikum auslöst. Die einzelnen Ideen selbst werden hingegen nivelliert und oft zu einem Brei von kruden Vorstellungen, die nur manchmal im Ansatz von überordneten Meta-Ideen (z.B. NWO) zusammengefasst werden sollen.
Wobei der Reichsunfug meiner Meinung nach ein Paradebeispiel für diese These ist. Denn die Annahmen sind so abwegig und Wirkungen oder Folgen so gering oder hanebüchen, dass man es bei erstem Kontakt mit den Ideen für ausgeschlossen hält, dass mehr als eine Hand voll echter Spinner an so etwas zu glauben vermag. In den ersten Jahrzehnten der Herrschaft von Reichskanzler Ebel war es genau so. Der versponnene Rentner war zu nicht mehr Wirkung in der Lage als ein paar Unterstützer zu finden mit denen im Hinterzimmer Staat gespielt wurde.
Erst als diese Ideen aus seinem Hinterzimmer in das Internet schwappten und dort aus ganz unterschiedlichen Motiven (u.a. finanziell und rechtsextrem aber teilweise auch nur aus Neugier und Faszination) aufgegriffen, erweitert und propagiert wurden entwickelte sich die heutzutage erstaunlich große wenngleich sehr zersplitterte Reichsbürgerszene.
Die zwangsläufige Vermengung dieser Ideen mit vielen anderen Richtungen des Irrglaubens hat der früher völlig unbedeutenden Reichsidee einen erstaunlich fruchtbaren Nährboden für die Verbreitung dieser Hirngespinste geliefert. Wer sich heutzutage im Netz mit Esoterik, Arzt- und Impfkritik oder Umweltsorgen beschäftigt landet schnell auf arg extremen Seiten, die immer öfter auch Reichsphantasien in den schwafelnden Sturmgeschützen ihrer Verschwörungstheorien haben.
Wobei die Reichsidee sich qualitativ von den eher abstrusen Vorlagen des Herren Ebel zu umfassenden Konstrukten gemausert hat, die durch professionelle Vortäuschung von Wissenschaftlichkeit und Stringenz bei dem oft wenig gebildeten Publikum eine hohe Überzeugungskraft besitzt. Auch hierfür war das Medium Internet weit mehr als nur der Geburtshelfer. Es ist das Werkzeug ohne das es den Unsinn in diesen Ausmaß gar nicht geben würde.
Man kann sogar praktische Bezüge zwischen dem Medium und den Reichsideen entdecken. Beide sind in hohem Maß affin zu Dokumenten. Kein Reichstext ohne Verweise auf Verfassungen, Urteile und Urkunden, die sich fast alle im Internet finden, abkupfern und ggf. etwas anpassen lassen. Kein Reichsbeweis ohne eigene Dokumente, die man heutzutage problemlos in das Netz einstellen kann. Und weil das Reichstun meist mit dem Verfassen von Schriften an Behörden etc. zu tun hat ist es naheliegend das dabei sofort greifbare Internet sowohl als Fundgrube und auch als Müllplatz zu verwenden. Und im optimalen Fall kann man die Schreiben ohnehin gleich noch als Mail verschicken kann.
Letztlich ähnelt das Internet in seiner ungreifbaren und doch machtvollen Unpersönlichkeit sogar ziemlich den finster unpersönlichen Mächten und Behörden gegen die es zu obsiegen gilt. Da mag der gute große Bruder einem gegen die bösen Gesellen beistehen.
Das Medium und die Reichsphantasien passen so erstaunlich gut zusammen, dass der erschreckende Erfolg dieser kruden Ideen einen nicht so sehr verwundern sollte.
Small Blue
– geschrieben vom Benutzer BlueOcean im offiziellen Anti-Reichsdeppen-Forum