Prozessbericht aus Stuttgart: Vom Unschuldslamm zur Mordanklage

In Stuttgart muss sich derzeit Manfred J., ein südbadischer Reichsbürger, wegen versuchten Mordes an einem Polizisten vor dem Oberlandesgericht verantworten. Den ersten Verhandlungstag hat der Sonnenstaatland-User “Reichskasper Adulf Titler” besucht. Seinen ausführlichen und sehr differenzierten Prozessbericht aus dem SSL-Forum geben wir hier mit seiner Erlaubnis wieder.

Der erste Verhandlungstag war geprägt von der überaus langdauernden, larmoyanten Verlesung der eigenen Lebensgeschichte durch den Angeklagten. Dabei wird eines deutlich: Bei ihm handelt es sich um einen scheinbar harmlosen, esoterisch angehauchten Durchschnittsbürger, der zwar im Leben einige Widrigkeiten und Schicksalsschläge hinnehmen musste, der aber bis zur angeklagten Tat keiner Fliege etwas zuleide getan hat. Kurzum, ein typischer unauffälliger Anhänger von Reichsbürger-Gedankengut, wie sie wahrscheinlich zu Hunderttausenden unter uns leben.

Dass sich Manfred J. dann als Reaktion auf eine gewöhnliche Polizeikontrolle eine wilde Verfolgungsjagd mit den Beamten lieferte, schliesslich einen Polizisten auf die Motorhaube nahm und diesen schwer verletzte, zeigt leider einmal mehr, was dieses Gedankengut aus Menschen machen kann, die eigentlich zu keiner Gewalt bereit oder fähig schienen. Einem Bericht der FAZ von einem späteren Verhandlungstag zufolge bekennt sich der Angeklagte nach wie vor zu seinem Reichsbürger-Gedankengut und bezeichnete Polizisten als “dreckige Söldner” und “Kombattanten”, die sich illegal in Deutschland aufhalten würden.

Hier nun der Prozessbericht.

Erster Verhandlungstag gegen den Reichsbürger am OLG in Stuttgart.

Verhandlungsbeginn sollte um 9 Uhr sein. Um 8:40 Uhr wurden die Besucher eingelassen. Meinem Eindruck nach waren keine Reichsbürger-Fans anwesend. Bei mindestens 10 Personen handelte es sich um Vertreter der Medien. Der SWR war mit einem Kameramann, Assistentin und Schreibern vor Ort. Dann noch wenigstens zwei Fotografen. Der Rest der Besucher waren überwiegend junge Leute, denen ich einfach mal unterstelle, dass sie vielleicht Studenten waren. Einige kannten sich.

Angeklagter: Manfred J.
Verteidiger: RA Köpcke aus Freiburg
Nebenkläger: C. Collmer
Dann noch Nebenklagevertreter

Anklage: Verdacht des versuchten Mordes.

Entgegen der Verlautbarung der „autonomen Antifa“ aus Freiburg ist nicht „Nazi-Anwalt Dubravco Mandic“ sein Verteidiger.
9:11 Uhr: alles wartet. Schließlich stellen sich die anwesenden Justiz-Bediensteten bereit. Der Angeklagte wird in Handschellen herein geführt. Er ist ein eher schmächtiger Mann von 62 Jahren, der normale, nicht unmodische Freizeitkleidung trägt, schlank ist und neben einer Mütze noch eine Brille trägt. Und Maske. Er ist ledig, von Beruf Schreiner und auf Nachfrage des Richters „Deutscher“ und seit 7. Februar 2022 in Haft.

Schließlich wird vom Vorsitzenden die Verhandlung eröffnet und die Staatsanwaltschaft verliest eine Anklage, die es in sich hat und die das Verhalten eines Menschen aufzeichnet, das so gar nicht zum Erscheinungsbild und des ersten Eindrucks, den man vom Angeklagten erhält, passen mag.

Gekürzte Fassung, da ich gar nicht so schnell mitschreiben konnte:
Vorsätzlicher Tötungsversuch an einem Polizisten, Vertuschen einer Straftat, Angriff auf Vollstreckungsbeamte, Fahren unter Alkoholeinfluss (1,26 Promille), Fahrerflucht, und noch eine ganze Latte mehr an Vorwürfen. Was der Tathergang eben so hergab. Man kommt aus dem Staunen nicht raus, was sich da abgespielt hatte.
Der Angeklagte, so die StA., fühle sich als zum Großherzogtum Baden von 1918 zugehörig.

Tathergang (gekürzt)
Der Angeklagte sollte durch eine Polizeistreife kontrolliert werden, weil er dadurch auffiel, dass er mit weit überhöhter Geschwindigkeit durch eine Ortschaft fuhr. Auf die Aufforderung, anzuhalten, reagierte er aber nicht. Als man ihn schließlich stoppte, öffnete er nicht die Seitenscheibe, sondern fuhr davon. Bei der anschließenden Verfolgungsjagd kam es wieder zu Stops, die der Angeklagte aber wiederum ignorierte, stattdessen immer wieder davon fuhr. In der Folge gab die Polizei, inzwischen waren es mehrere Streifenwagen, auch Schüsse auf das Fluchtfahrzeug ab. Erst wurde zwei Mal geschossen, als der Angeklagte auf einen Polizisten zufuhr. Die Kugeln durchschlugen die Windschutzscheibe, was den Angeklagten aber nicht von der weiteren Flucht abhielt. Schließlich nahm er den Polizisten auf die Motorhaube, wo sich dieser während der weiteren Verfolgung nur mühsam halten konnte. An Abspringen war wegen der hohen Geschwindigkeit nicht zu denken. Drei weitere Schüsse wurden von einem anderen Polizisten abgegeben und später nochmal 14 weitere. Ein Schuss traf den Angeklagten am Oberarm. Dennoch fuhr er weiter. Der 39-jährige Polizei-Beamte auf der Motorhaube erlitt bei dieser Fahrt und einem Sturz „Knochenbrüche im Gesicht, einen Schädelbruch und eine Gehirnblutung sowie zahlreiche Prellungen und Schürfwunden am Körper und ist seitdem posttraumatisch belastet und dienstunfähig.

In der weiteren Folge widersetzte sich der Angeklagte immer wieder den Versuchen der Polizei, das Fahrzeug zum Halten zu bringen, was sechs weitere Schüsse aus Dienstwaffen zur Folge hatte, wobei ein Hinterreifen beschädigt wurde. Schließlich konnte die Polizei den Mann endgültig stoppen und festnehmen.

StA meint, der Angeklagte sei zum Führen von Fahrzeugen ungeeignet, sein Führerschein sei daher eingezogen worden. Das dürfte noch das kleinste Problem für den Mann sein.

Der Angeklagte macht einen ruhigen und freundlichen Eindruck. Überhaupt mag sein ganzes Erscheinungsbild und Verhalten so ganz und gar nicht in die üblichen Kategorien passen, die man von Reichsbürgern kennt. Er antwortet stets freundlich, aber nicht etwa übertrieben oder gekünstelt freundlich, gibt bereitwillig Auskunft (außer sein Verteidiger rät davon ab).
Man könnte sogar sagen, die Dialoge mit ihm gleichen vom Ton her einer ungezwungenen Unterhaltung mit einem völlig normalen Menschen, der aus seinem Leben erzählt.

Der Richter belehrt den Angeklagten über seine Rechte. Angaben zur Person müsse er machen, aber sonst müsse er sich nicht zum Fall äußern.

Der Verteidiger bittet darum, dass sein Mandant seinen Lebenslauf verlesen darf, den er im Knast geschrieben hat. Er weist darauf hin, dass sein Mandant mitunter Probleme habe, Ereignisse zeitlich genau einzuordnen und in seinem Lebenslauf auch Zeitsprünge vor und zurück machen werde. Er bittet außerdem um Fairness gegenüber seinem Mandanten und um eine faire Trennung zwischen persönlichen Angaben und dem Geschehen der vergangenen zwei Jahre.

Richter stimmen zu.

Verteidiger zum Angeklagten „Lassen Sie sich ruhig Zeit, wir haben viel Zeit.“ Leichtes Raunen am Richtertisch.

An dieser Stelle hätte ich ahnen können, was auf mich zukommt.

Der Angeklagte verliest in ruhigem Tonfall seinen Lebenslauf.
Was recht schnell auffällt, ist, dass sein Leben immer wieder von schwer empfundenen Schicksalsschlägen geprägt war, die er offenbar nicht verarbeiten konnte, weil in seinem Leben dafür kein Raum war. Immer wieder kämpft er bei der Verlesung von persönlichen Erfahrungen mit den Tränen. Manch einer mag vielleicht sagen, der Kerl ist weinerlich und zerfließt vor Mitleid. Aber ich glaube, so einfach darf man es sich hier nicht machen.

Er erzählt von seiner Kindheit, von den schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen auf dem elterlichen Hof, den schwierigen familiären und zwischenmenschlichen Verhältnissen der Eltern aber auch in der Beziehung zu nahen Verwandten, Geschwistern usw..
Mehrere Selbstmorde oder Selbstmordversuche in und im Umkreis der Familie prägen seine Kindheit und Jugend. Auch wurde er wegen seiner Schmächtigkeit oft gehänselt und es wurde ihm seitens der Eltern auch wenig zugetraut. Irgendwann stellt man bei ihm einen Herzfehler fest, der viel später durch eine OP „praktisch in letzter Minute“ behoben werden konnte. In der Schule gab es Probleme mit manchem Lehrer. Er erzählt außerdem von einer Schwester, die früh starb, eine andere wurde früh von der Schule genommen und als Hausmädchen in die Schweiz verschickt. (das war eine gängige Methode in früheren Zeiten, sich von zu vielen hungrigen Mündern in armen Haushalten zu trennen).

Er erzählt, wie er von einem anfänglich aktiven, vielleicht sogar hyperaktiven Kind zum introvertierten, unglücklichen Kind wurde, wie ihm das Herz zu schaffen machte, die Probleme der Eltern untereinander, und dass er nicht wirklich geliebt wurde.

Er betont zwischendurch, dass er schon früh einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und ein starkes Wahrheitsempfinden entwickelte. Was wiederum in krassem Widerspruch zur vorgeworfenen Tat eines Mannes steht, der sich irgendwann in seinem Leben in einer Ideologie verloren hat, die ihre Grundwerte in vergangenen Zeiten zu finden glaubt.

Immer wieder kämpft er mit den Tränen, fängt sich dann aber und setzt seine Vorlesung fort. Dabei verliert er sich immer wieder sehr in Details. Man könnte sich seine Verlesung gut als Lesung einer Geschichte aus dem Leben eines Kindes und jungen Mannes aus dem Markgräflerland vorstellen. Teils klingt sie spannend, teils erzeugt sie Mitgefühl.

Wenn er mit den Tränen kämpft, beruhigt ihn sein Verteidiger. „Er stehe ja das erste Mal vor Gericht“.

Der Angeklagte berichtet, dass ihm als Kind viel verwehrt wurde. Immer stand die harte Arbeit auf dem Hof im Vordergrund. Als ein Lehrer meinte, der Bub solle aufs Gymnasium, meinen die Eltern „Volksschule reicht“. Außerdem macht im seine körperliche Schwäche, bedingt durch den Herzfehler, zu schaffen.

Er lese viel und gerne. Bei seinen Schilderungen springt er in der Zeit vor und zurück, berichtet von Spiel und Tadel, Minderwertigkeitskomplexen. Als er 16 Jahre alt ist, spielt er mit dem Gedanken an Suizid. Wieder Tränen. Aber er fängt sich uns setzt seine Lesung ruhig fort.

Als die Berufswahl ansteht, probiert er es in einer Bank, beginnt aber dann eine Lehre als Schreiner. Eine „kleinkarierte Schreinerei” mit einem Chef-Ehepaar, das ihn nicht gut behandelte, wird seine Lehrstätte. Wieder erzählt er von Erfahrungen der Benachteiligung.

Irgendwann finanziert ihm der Vater den Führerschein, stirbt aber auch viel zu früh.
Der Angeklagte entschuldigt sich, dass ihm das Schreiben des Lebenslaufes schwergefallen sei.

Dann erzählt er von einer Küchenrenovierung für seine „Mutti“.
An der Stelle merkt man auch wieder, wie viele unverarbeitete Erlebnisse ihn aus seiner Kindheit prägen mögen. Als nun 62-Jähriger erzählt er noch von „Mutti“, und man hört aus den Schilderungen durchaus einen traurigen Unterton. Dann der Suizid des Bruders seiner Mutter. Später wird auch ein Onkel sich das Leben zu nehmen. Der Opa bereitet seinem leben auch bald ein Ende.

Der Angeklagte nimmt Musikunterricht, versucht es mit Trompete, was ihm auch liegt. Aber er muss wegen schwerwiegender Zahnprobleme auf Posaune umsatteln und entwickelt sich zu einem guten und gefragten Posaunisten. Die Erzählungen über seine Karriere in heimatlichen Musikvereinen, bei Festivals und weiteren Anlässen nimmt weite Teile seiner Erzählung ein. Und auch dabei verliert er sich oft in kleinste Details. Die Namen seiner Mitmusiker, Dirigenten, Förderer, Kollegen, Freunde – alles ist ihm erinnerlich. Über viele dieser Menschen berichtet er – über die Freundschaften, über Feiern, aber auch darüber, dass ihn manch einer auch fallen ließ und nicht gut behandelte.

Eine 1. Liebe scheitert daran, dass die Freundin der Auserkorenen einen Liebesbrief fingiert um sie von ihm abzubringen. Sie wollte ihn selbst. Aber daraus wurde nichts. „Die Liebe ist für ihn etwas Heiliges.“

Dann berichtet er vom frühen Tod eines seiner besten Freunde, mit dem ihm neben tiefer Freundschaft sein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden verband. Auch über diese Freundschaft berichtet er detailreich und man spürt, wie sehr ihn das alles belastete. Für eine Verarbeitung aller negativer Erlebnisse war aber wohl nie die Zeit.

Er berichtet von weiteren sehr guten Freunden, gemeinsamen Urlauben, Reisen, schöne Erlebnisse.

Dann der Ausbau einer Scheune für die beiden verbliebenen Schwestern. Er arbeitet viel, hat kaum zeit für andere Dinge, außer die Musik. Eine gute Zeit, aber immer wieder von familiären Problemen geprägt.

Es ist bereits 10 Uhr.

Er macht einen guten Abschluss als Schreiner und – ich kürze das hier stark ab – findet weniger gute aber auch sehr gute Anstellungen. Zuletzt sogar bei einer Firma, die den Innenausbau von Flugzeugen in der Schweiz macht.

Weiter detaillierte  Beschreibung von Freundschaften, Erfolgen als Musiker usw. Zwischendurch ist er sogar Vorsitzender eines Musikvereins.
Später Austritt aus dem Verein im Groll, aber weiter Verbundenheit zur Musik und Tätigkeit in anderen Vereinen. Sein letztes Instrument kauft er kurz vor der Pandemie. Zwischendurch lobt er auch seine Talente, was durchaus glaubwürdig erscheint.

Wichtig ist ihm ein aufrichtiger Lebenswandel und die 10 Gebote „empfangen durch Moses“. Wobei das wieder im krassen Widerspruch zu seiner Tat steht. Aber die Aufklärung wird sich erst in nachfolgenden Verhandlungen zeigen können.

Was auch deutlich wird: er lässt sich negativ über die Zeit der Nazidiktatur aus. Sein Vater sei im Krieg durch Hitler missbraucht worden.

Von der Mutter habe er gelernt „was du nicht willst, das man dir tu, das füge auch keinem anderen zu“.

Das sind die Momente, wo man wieder nicht weiß, wie man den Mann einordnen soll und wo man sich fragt ob ihm die Widersprüchlichkeiten seines Denkens und Handelns selbst bewusst sein könnten.

Er erzählt weiter: 44 Jahre harte Arbeit und immer zu wenig Geld. Sein 50. Geburtstag sei der Hammer gewesen. Alle haben beim Fest mitgeholfen – Musik, Feier und Details Details Details.

Auf seinen 60. hatte er sich besonders gefreut, vieles war schon geplant, er hatte extra Geld dafür angespart. Sollte eine tolle Feier werden.
Dann kam die blöde Pandemie mit entsprechenden Einschränkungen.

Dann verweist er auf seine tadellose Arbeitskarriere. „Hätte der Polizeieinsatz dem nicht ein Ende bereitet.“

Im Zusammenhang mit der Pandemie spricht er zwei, drei Mal von „Repressalien“.

Dann neue Arbeitsstelle, gute Wahl, gutes Geld, guter Chef, aber blöder Sohn vom Chef. Er muss mit Stoffen arbeiten, die ihm gesundheitlich zusetzen. Er bekommt schwere Hautprobleme, geht zum Heilpraktiker. Irgendwann kündigt er. Durch die vom Heilpraktiker verordneten Mittel (er spricht von Medikamenten) wird er impotent.
Der Heilpraktiker habe TCM-Kenntnisse gehabt (keine Ahnung, ob ich das richtig verstanden habe und was damit gemeint war). Der Heilpraktiker verschreibt ihm was und sagt, er solle in anderthalb Jahren wieder kommen. Das ganze wiederholt sich nochmal. Seine Herzprobleme, die zwischenzeitlich wieder da waren, werden besser. Sein Hausarzt räumt ein, dass die Schulmedizin oft mit viel zu starken Mitteln behandelt.

Da zeichnet sich seine Hinwendung zu alternativen Heilmethoden ab. Er beginnt schließlich eine nebenberufliche Zusatzausbildung zum Gesundheits- und Präventionsberater.

Im Job hat er in der schweizer Firme eine „super Zeit“.
Für seine Mutter erstellt er einen Heilplan, weil es der auch schlecht geht. Aber sie ignoriert das. Auf einer Fahrt im Zug trifft er auf eine Pathologin, die ihm den nächsten Floh ins Ohr setzt. Die Medizin sei nur an Profiten orientiert.
Die Mutter stirbt schließlich wegen „schulmedizinischem Pfusch.“ Also wieder ein Schicksalsschlag.

Sein Lebensleitsatz sei „sich selbst und anderen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen“.

Wenn man zwischendurch mit diesem Menschen durchaus mitfühlen konnte, fällt einem das an solchen Stellen wieder schwer. Zu groß der Kontrast zu seiner Tat.

Dann geht es in der Zeit wieder zurück ins Jahr 2001. Der Onkel nimmt sich das Leben, nimmt die abgesägte Schrotflinte und erschießt sich selbst. Wieder ein Suizid. Der Onkel war Jäger, aber keiner der nur schießt, sondern mehr „ein Heger“. Der Angeklagte bedauert, dass er nie mit dem Onkel auf die Pirsch ging.

Es folgt ein Erbe, wovon sich der Angeklagte den Wunsch nach einem Cabrio erfüllt.

Es ist bereits 10:40 Uhr, und es geht weiter.
Wieder zurück zum Job in Basel bei Jet Aviation. Wieder der Umgang mit giftigen Stoffen. Aber er hat dank Heilpraktiker und Nahrungsergänzungsmitteln die Ausschläge gut im Griff.

Er lässt sich über den Chef aus, der „ein echter Nazi war“. Seine Abscheu klingt glaubwürdig. Schließlich kündigt er, findet einen neuen Job mit besserer Bezahlung und besseren Bedingungen. Aber die Pandemie bereitet dem ein Ende.

Er macht eine weitere Ausbildung zum Qi gong-Kursleiter. Bekommt eine Auszeichnung, gibt Kurse. Er lobt sich selbst. Er therapiert sich selbst, muss aber dennoch wieder gesundheitliche Zwangspausen einlegen, erfährt „Repressalien“ (Pandemie), Rückschläge und schließlich ein Burn Out. Durch die Pandemie lernt er Gleichgesinnte kennen – “Freunde”, wie er sagt.

Es ist 10:45 Uhr, und er beendet die Verlesung seines Lebenslaufes.
Puuuuuhhhh!

Nun verliest der Verteidiger den tabellarischen Lebenslauf, der sich durchaus ordentlich präsentiert. Es gibt keine Zeiten der Arbeitslosigkeit, allenfalls Krankheitszeiten.

Dann kommt noch zur Sprache, dass der Angeklagte sich mit AMWAY-Produkten ein Standbein aufbauen wollte, was aber „nichts einbrachte“. Ach?

Angeklagter reagiert, wie gesagt, stets ungekünstelt freundlich und höflich, wenn er von Richter, StA angesprochen wird. Kann sogar über sich selbst lachen, etwa wenn er sich über seine sehr hohe Stirn fährt und meint, er habe sich an den eigenen Haaren wieder aus Schlamassel gezogen, „das könne er ja bei so wenig Haaren eigentlich nicht sagen“.

Verteidiger überreicht Richtern und StA Lebenslauf und weitere Unterlagen und bittet nochmal um faire Trennung zwischen Lebenslauf und Tat.

Richter fragt Angeklagten wegen Instrumenten, familiäre Verhältnisse, Wohnsituation zur Zeit vor der Inhaftierung.

Angeklagter antwortet höflich, bringt aber ein paar Daten durcheinander.

Richter fragt zu Wechseln in der Mitgliedschaft in Musikvereinen.
Angeklagter auch hier freundlich und höflich.

Richter sagt was zur Homepage des Angeklagten. Die Domain-Adressen habe ich nicht verstanden, aber man kann mit Gurgel einiges herausfinden.

Richter fragt nach gesundheitlichen Problemen und Nahrungsergänzungsmitteln.

Angeklagter antwortet, dass in Zusammenarbeit mit dem Heilpraktiker alles besser geworden sei, aber wieder schlechter wurde, wenn seelische Rückschläge und neue Probleme, insbesondere durch die Haft auftraten. Er sei jetzt in der Haft zum Vegetarier geworden und referiert zur Wirkung von Milch. Aber nur kurz.

Richter: Nehmen sie noch Medikamente?
Angeklagter: Nein, nicht mehr.

Richter: Sie haben mehrere Fahrzeuge? Einen Mazda, einen Deuz, Wohnwagen, VW Golf, Mercedes A180. Warum so viele und verschiedene?

Angeklagter: War so ’ne Idee. Und der Deuz fährt ja mit allem.

Richter fragt zu Fahrerlaubnissen, welche Führerscheine.
Angeklagter gibt Auskunft.

Richter. Wann war der letzte Arbeitstag?
Angeklagter kann das nicht recht einordnen, weil zwischen letztem Arbeitstag und Erkrankung durch Schulterprobleme und schließlich Kündigung, noch Urlaub war.

11:10 Uhr Es zieht sich. Ich weiß nicht ob das oft so ist, aber mitunter machte sich Schweigen breit.

Richter besprechen etwas. Unverständlich.
Irgend etwas ist mit dem letzten Arbeitsverhältnis und einem Termin zur ärztlichen Untersuchung nicht ganz in Ordnung gewesen. Da hätte der Angeklagte erscheinen sollen. Aber er kam nicht weil es ihm psychisch schlecht ging. Aber er kann sich nicht genau erinnern, da das nur wenige Tage vor seiner Verhaftung war.

Richter fragt zu Zahlungen auf Konten. Der Angeklagte hatte offenbar, da er bei einem Schweizer Unternehmen arbeitete, ein Konto in der Schweiz, wohnte aber in Deutschland.

Verteidiger empfiehlt, keine Angaben zu machen.

Richter fragt nach Einkünften mit AMWAY.
Angeklagter: Ist nichts bei rausgekommen. Nur Verluste.

Richter: Das Finanzamt hat offenbar Forderungen von rund 47.000 Euro?
Verteidiger empfiehlt, keine Angaben zu machen.

Richter fragt nach Grundbesitz.
Angeklagter erzählt von Anteilen an einem Grundstück, das zum Teil seinen beiden Schwestern gehört, ein kleines Feld, ein kleines Stück Wald, kleines Rebstück.

Richter: Was er im Wald gemacht habe, ob da Gewinn erwirtschaftet worden sei.
Angeklagter: Nur ab und an Holz gemacht, Bäume aufgeräumt, wenn sie umgefallen waren, normale private Waldpflegearbeiten.
Außerdem wollte er im Garten ums Haus eine Bienenwiese anlegen. Aber das kostet alles Geld und es interessiert ja niemanden, wenn etwas kostet.

Richter: Schulden?
Angeklagter: Nein.

Richter: Vermögen?
Angeklagter: Kaum

Richter fragt nach dem Konto in der Schweiz. Da habe der Angeklagte doch die Kündigung erhalten. Was daraus geworden sei.
Angeklagter: Kündigung erhalten wegen Kontoabfrage durch Finanzamt. Aber er wisse nicht, was nun daraus geworden sei.

Richter 2: (Ich weiß nicht, wer Richter oder Beisitzer war und konnte einige Leute am Richtertisch wegen Pfeilern mitten im Raum auch nicht sehen)
„Sie sagten, sie haben während der Corona-Zeit verstärkt Alkohol getrunken und Süßigkeiten konsumiert. Wie war das davor?“
Angeklagter weicht etwas aus: „Nach markgräfler Art.“

Weitere Nachfrage durch Richter 2, was er damit meine.
Angeklagter: „Zu einem Essen gehört ein Glas Wein.“ Er habe also schon ab und an Wein getrunken, wie man das eben so macht.

Richter 2 fragt nach psychiatrischer Behandlung.
Angeklagter hatte aber keine. Nur psychische Probleme, mal ging es ihm schlechter, da wollte er bspw. nicht essen und lag nur im Bett um sich neu zu orientieren.

Das klang für mich ein bissel wie Versinken in Grübeleien.

Richter 2 hakt nach, was Angeklagter gemacht hat, wenn es ihm schlecht ging.
Angeklagter erzählt, er habe viel gelesen und geschrieben, und dann wieder Details Details Details …

Dann fällt ihm ein, dass er viel im Garten geschafft habe, Holz gemacht, usw.

Richter 2: Beziehungen zu Frauen? Was war die längste?
Angeklagtem ist die Frage etwas peinlich, habe ich den Eindruck. Er tut es ab und will sich nicht äußern.
In seinem Lebenslauf war bis auf das eine Mal auch nie die Rede von Beziehungen zu Frauen.

Richter 2: Post vom Gericht haben Sie nicht angenommen. Warum?
Verteidiger empfiehlt, keine Angaben zu machen.

Richter 3: „Hatten Sie mal einen Unfall mit Kopfverletzungen?“
Angeklagter: „Nein“.

Bei der Frage vom Richtertisch, ob der Angeklagte der Schulmedizin kritisch gegenüberstehe, sie etwa ablehne, kommt ein klares Nein vom Angeklagten. Er sei ja mit seinem Herzfehler durch die Schulmedizin gerettet worden. Er stehe der Schulmedizin absolut nicht ablehnend gegenüber, sondern sehe das differenziert, also die Vor- und Nachteile.

Richter: Wie sehen sie das mit dem Impfen?
Verteidiger empfiehlt, keine Angaben zu machen.

Richter: Wie es in der Haft sei, ob er arbeite, besuche empfange, Briefe bekomme.
Angeklagter beschreibt die Situation, dass Briefe nur mit Wochen Verzögerung zu ihm durchgestellt würden. Arbeiten dürfe er nicht. Besuche seien auch schwierig. Als ihn eine Schwester besuchen wollte, ließ man sie nicht zu ihm, weil sie nur zwei Mal geimpft gewesen sei, aber wohl keinen Nachweis dabei hatte.

Richter: Ob die Schussverletzungen verheilt seien?
Verteidiger empfiehlt, keine Angaben zu machen.

Schließlich stellt der Richter fest, dass es nichts weiter zu fragen gebe und die Verhandlung deshalb unterbrochen würde. Mit einem der kommenden Termine gebe es aber möglicherweise wegen eines Konkurrenztermins Probleme.

Um 11:37 Uhr schließlich ist die Verhandlung erst mal beendet.

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Letztlich ist also erst mal nicht viel dabei rübergekommen. Ich habe einen Angeklagten erlebt, dessen Auftreten und Erscheinung nicht zur Tat passen wollen und dessen Lebensgeschichte, die durchaus glaubwürdig erscheint, auch Mitgefühl erzeugen kann. Mir scheint, aber das ist nur mein unfachmännischer Eindruck, dass es dem Angeklagten in jungen Jahren nicht ermöglicht wurde, seelische Belastungen zu verarbeiten und dafür den nötigen Rückhalt und die Unterstützung zu finden, die ein Kind, ein Jugendlicher braucht.

Er ist etwa in meinem Alter und ich kenne das Markgräflerland, die Gegend, aus der er stammt, recht gut und hatte in meiner Kindheit Einblick in einige Familien auf Höfen. Das war für viele Kinder keine einfache Zeit. Eine Zeit, die von viel Arbeit und wenig Wohlstand geprägt war und wo Kinder von diesen Höfen nicht selten ziemlich verdreckt und nach Stall riechend in die Schule kamen. Ferien kannten die kaum. Arbeit aber viel.

Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Ob ich einen der nächsten Termine wahrnehmen kann, weiß ich noch nicht. Es wäre aber interessant, was ein anderer SSLler zu berichten hätte. Vielleicht findet er meinen Eindruck bestätigt, vielleicht entsteht bei ihm aber ein gänzlich anderer Eindruck. Und wer weiß, was die Verhandlung noch zutage fördert.

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Hel Vetia

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Eine Antwort

  1. 24. November 2022

    […] noch steht Manfred J., Reichsbürger aus Südbaden, wegen versuchten Mordes an einem Polizisten vor dem OLG Stuttgart. Ein weiterer Prozesstag, an dem drei Polizisten, unter ihnen auch der Geschädigte und […]

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